Lore Filmplakat (Quelle: HöhnePresse)
Als sich das Dritte Reich unweigerlich seinem Ende nähert
und die Alliierten das Land befreien, geraten die nationalsozialistischen
Eltern der jungen Lore (grandios: Saskia Rosendahl) in amerikanische
Gefangenschaft und lassen ihre insgesamt fünf Sprösslinge mittellos zurück.
Nachdem auch das Tafelsilber ihnen keine Nahrung mehr einbringt und die ehemals
zur Oberklasse des Nazi-Regimes gehörenden Kinder die zunehmenden Antipathien
der Bevölkerung spüren, machen sie sich auf eine 900 Kilometer lange Reise vom
Schwarzwald zur Großmutter, die auf einer Hallig in der Nordsee lebt. Unterwegs
erhalten sie unerwartete (und zunächst auch unerwünschte) Hilfe von Thomas (Kai
Malina), dessen Pass und Tätowierung am Arm ihn als Juden ausweisen…
Lore ist ein Film,
der keinen einfachen oder gar ausgetretenen Pfad begeht. Er verzichtet auf die
Darstellung von zerstörten Städten, sucht nicht die große Inszenierung oder die
Überwältigung, sondern schickt seine Figuren durch sonnige Wälder und mit
Blumen übersäte Wiesen. Es ist eine schöne, romantische Szenerie, durch die die
australische Regisseurin Cate Shortland Lore und ihre Geschwister schickt, doch
über allem hängt stets eine Art nervöser Unruhe, die sich manchmal abrupt
entlädt, um dann wieder in den verhalten-angespannten Zustand zu verfallen.
Über dem Sommer 1945 hängt eine „seltsame Hitze“, wie eine Figur anmerkt und atmosphärisch
passt das gut zum gesamten Film. So passt es auch, dass Kameramann Adam Arkapaw
stets dicht bei den Protagonisten bleibt. Teilweise extreme Nah- und
Detailaufnahmen vermitteln ein Gefühl von Nähe, zudem ist der Film nicht
flächendeckend mit einem musikalischen Soundtrack unterlegt, sondern gibt
Sequenzen Möglichkeit, nur durch Geräusche ihre Wirkung zu entfalten.
Auch in der Figurenzeichnung geht Lore Wagnisse ein. Rosendahls Hauptfigur steht an der Schwelle zur
Pubertät, glaubt noch lange an den Endsieg und wird durch das Auftauchen von
Malinas Thomas in einen Zwiespalt gebracht. Hin- und hergerissen zwischen
aufkeimenden sexuellen Interesse und antisemitischer Verachtung ist die
Spannung zwischen den Figuren ebenfalls eine „seltsame Hitze“, die über den
Szenen flimmert. Dabei vermeidet es Shortland, die auch das Drehbuch für den
Film nach dem Roman Die dunkle Kammer
von Rachel Seiffert schrieb, Lore nur böse und Thomas nur gut darzustellen.
Beide bleiben den Film über höchst ambivalente Figuren, deren Zweckgemeinschaft
durch die Spannungen immer kurz davor steht, zu zerplatzen. Lores Verachtung
wird zunehmend angekratzt, während man über Thomas nicht nur gutes berichten
kann. Nicht nur nähert er sich Lore zunächst in äußerst ruppiger und
eindeutiger Art, auch seine Motive, ja seine ganze Identität ist
diskussionswürdig. So verschiebt sich die Zuschauerwahrnehmung stetig, sie
bleibt ähnlich wie die Beziehungen der Figuren zueinander im stetigen Fluss,
auch wenn dieser Fluss nicht einem wohlwollenden Meer endet.
Besonders geschickt wird auch der Grundstein für die Kultur
des Schweigens nach dem Ende des Krieges gelegt. Eine Gruppe Menschen in einem
Zug versichert sich gegenseitig, von nichts gewusst zu haben und dass die
Alliierten die Nazi-Verbrechen aufbauschen und Lores Großmutter spricht gegen
Ende des Films den programmatischen Satz: „Eure Eltern haben nichts falsch
gemacht.“ Damit beginnt im Haus der Großmutter nicht nur das Schweigen über den
Krieg und die Verbrechen als solche, sondern auch über die Erlebnisse der
Kinder. Nicht umsonst ist bereits der Titel des Films doppeldeutig. Einerseits
ist Lore die Kurzform von Hannelore, der vollständige Vorname von Rosendahls
Figur, andererseits bezeichnet im Englischen lore, als Substantiv gebraucht, die Gesamtheit einer bestimmten
kulturellen Erzählwelt, werden also in diesem Fall Mythen, Halbwahrheiten und
Legenden über den Zweiten Weltkrieg zu lore
– zu Sagen, die erst durch hartnäckiges Schweigen über die Wahrheit entstehen
können.
Lore ist ein hervorragender Film, gut gespielt, toll
bebildert und auf vielen Ebenen interessant und stimmig. Die einzige Frage, die
offen bleibt: Warum kam dieser als Beitrag Australiens ins Rennen um den
Auslandsoscar geschickte Film nicht in die engere Auswahl der Academy?
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